Die Evangelisch-methodistische Kirche (EMK) hat seit ihren Anfängen immer wieder mit den Fragen rund um den überdimensionalen Begriff «Gerechtigkeit» gerungen. Dem Ruf aus Micha 6,8 folgend ist die Aufgabe eines jeden Menschen unter anderem «Gerechtigkeit zu üben». Dieser Ruf gilt dem Einzelnen genauso wie jeder politischen Regierung. Gerechtigkeit muss dem Wohle der Gesellschaft dienen, die Armen und Ohnmächtigen schützen und Systeme entwickeln, die das allgemeine Gute fördern. Die Sozialen Grundsätze (Social Principles) rammen einige Grundpfeiler in diesen grossen Fragen- und Themenkomplex, an dem sich die Kirche in ihrer Auseinandersetzung mit der politischen Macht zu orientieren hat.
Der Text zur «V. The Political Community» (siehe http://www.umcjustice.org/sp2020!) ist (überraschend) prägnant formuliert und (weniger überraschend) theologisch fundiert. Besonderes Augenmerk wird natürlich der Rolle der Kirche im politischen Umfeld gewidmet. Kirche und Staat sollen voneinander unabhängig sein und bleiben. Aufgabe der Kirche ist es einerseits, für die Regierenden zu beten, und andererseits eine prophetische Rolle zu übernehmen und Missstände mit klaren Worten und Taten aufzuzeigen. Das spricht mir ganz aus der Seele. Ich schätze das Prinzip Freiheit über alles. Die Kirche darf sich nicht an die Bedürfnisse der Herrschenden anpassen, nur um wohlgefällig zu sein oder geduldet beziehungsweise gefördert zu werden. Kirche ist immer ein Stachel im Fleisch der Macht; so wie Jesus (und alle Propheten vor ihm) ein Stachel im Fleisch der religiösen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht war.
Dazu passt, dass die Sozialen Grundsätze eindeutig Stellung zu den Menschenrechten, inklusive Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit, dem Recht auf sauberes Wasser und Grundversorgung etc. nehmen. Besonders ins Auge stach mir dabei der Satz: «Bildung ist ein Menschenrecht». Dieser scheinbar einfache Satz allein birgt genügend Herausforderungen für uns als Gesellschaft in sich. Noch lange haben nicht alle Menschen dieselben Bildungschancen – auch nicht bei uns in der wohlhabenderen Hemisphäre.
Nach der Klarstellung dieser Sachverhalte stellt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit der Regierungen. Beim Lesen des Textes musste ich lächeln. Kurios und gleichzeitig immer wieder erschreckend ist, dass gewählte Politiker/innen sich nicht selbstverständlich ihres Amtes gemäss verhalten. Stichworte hierzu sind: Verlässlichkeit, Offenheit, Transparenz. Ich schreibe diesen Text nur wenige Tage, nachdem der amerikanische Präsident das „Atom-Abkommen“ mit dem Iran einseitig für ungültig erklärt hat. Gleichzeitig wird, was mich als Wahlberechtigten eines EU-Landes besonders beschäftigt, hinter verschlossenen Türen immer noch über CETA und TTIP verhandelt. Die Schlagworte Verlässlichkeit, Offenheit, Transparenz wirken in diesem Zusammenhang zwar schön, aber auch hohl. Das Vertrauen in die politische Klasse scheint heute aus guten Gründen an einem Tiefpunkt angelangt zu sein.
Gerade deshalb fand ich es erfrischend, dass die Sozialen Grundsätze «zivilen Ungehorsam» gutheissen, sofern dieser gewaltfrei erfolgt – und die legalen Konsequenzen der Aktionen akzeptiert werden. Natürlich muss «ziviler Ungehorsam» dabei immer dem höheren Gut dienen, nämlich der Bekämpfung von Bosheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Martin Luther King Jr. und Dorothy Day schiessen mir spontan durch den Kopf …
Da jede Regierung die Verantwortung hat, für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen, stellt sich selbstverständlich auch die Frage nach dem Justizwesen eines Staates. Dass die Todesstrafe von der Kirche abgelehnt wird, ist naheliegend. Dass sie aber mit dem Werkzeug der «restaurativen Justiz» auch einen wertvollen Beitrag zur Neugestaltung unseres Justizwesens beizutragen hat, ist den meisten Menschen weniger geläufig. Viele nehmen es als gegeben hin, dass wir ein «Strafsystem» pflegen, das Opfer und Täter völlig trennt. Das Opfer hat in der Regel von der Bestrafung des Täters wenig (ausser eine gewisse persönliche Genugtuung vielleicht). Und der Täter hat kaum eine Chance, seine Tat wieder gut zu machen. Dagegen plädieren die Sozialen Grundsätze für einen Weg, der Opfer und Täter zusammenführt und für einen gewissen Ausgleich sorgt.
Der letzte Abschnitt zur politischen Gemeinschaft handelt vom Militärdienst. Hier steht die Kirche in der Spannung zwischen einerseits radikalen Pazifisten und andererseits Befürwortern eines «gerechten Krieges» im Falle des Versagens aller friedlichen Bemühungen. Beide Seiten haben ihre guten Argumente und es ist schwierig, hier eindeutig Stellung zu beziehen. Kann ein Pazifist wirklich einem Genozid tatenlos zuschauen, selbst wenn die Möglichkeit bestünde, durch militärische Intervention ein noch grösseres Blutvergiessen zu vermeiden? Andererseits: Wer entscheidet, wann ein militärisches Eingreifen angebracht ist? Ab welcher Opferzahl beispielsweise?
Ich möchte dem Leser diese Gedanken selbst überlassen, aber ein unangenehmer Stachel soll doch noch formuliert sein. Bis ins frühe 4. Jahrhundert, als das Edikt von Elvira formuliert wurde, scheinen Christen jede Art von militärischem Dienst tunlichst vermieden zu haben. Das Edikt verlangt sogar von jedem Soldaten, der neu zum Glauben kommt, sofort seinen Dienst zu quittieren. Der Pazifist würde sagen: «Gut so. Wer eine Waffe in der Hand hält, kann kein Kreuz tragen.» Ein anderer könnte sagen: «Das war eine andere Zeit. Damals hatten Christen noch keine staatstragende Verantwortung. Die heutige Situation ist viel komplexer.» Entscheiden Sie selbst!
The Political Community in der Version von 2017-2020: http://www.umc.org/what-we-believe/political-community
Die Sozialen Grundsätze (deutsch) in der Version 2017-2020: http://www.soziale-grundsaetze.ch
Christian Hagen ist Mitglied im Ausschuss Kirche und Gesellschaft der EMK Schweiz-Frankreich-Nordafrika
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen