Jesus sagt, die Wahrheit macht
uns frei. Glauben wir das? Vielleicht meint er doch nur als Wahrheit, dass er
Gottes Sohn ist und uns liebt. Denn ob andere Wahrheiten frei machen, ist
fragwürdig. Sie verpflichten uns viel mehr zum Handeln und zum Parteiergreifen,
sie nehmen uns unsere bequemen Illusionen und unsere Hilflosigkeit.
Anscheinend gehört die Wahrheit
nicht zum kostbaren Gut. Nur so kann ich mir die herrschende Stille über die
Festnahme von Julian Assange erklären. Ich erinnere mich, wie aufgeregt sich
2015 die Schlagzeilen tage-, ja wochenlang mit dem Anschlag auf die Redaktion
von «Charlie Hebdo» befassten. Alle gingen auf die Barrikaden für die
Pressefreiheit – auch für eine Zeitschrift, die andere Menschen und Meinungen
lächerlich macht.
Nach Julian Assanges Festnahme
gab es keine vergleichbare Reaktion. Aber ich finde die politische Kampagne
gegen Assange – einen Journalisten, der mit Hilfe von WikiLeaks wichtige und
beunruhigende Informationen, die uns alle betreffen, öffentlich gemacht hat! –
sehr gefährlich. Ich vermisse eine angemessene Reaktion, in der die damit
verbundene Bedrohung für die Pressefreiheit und für das Zivilrecht auf Wissen
und Transparenz angeprangert wird.
Jesus sagt, die Wahrheit macht
uns frei. Dazu gehört auch die Wahrheit über das widerrechtliche Handeln von
Behörden, über korrupte Regierungen, bis hin zu Kriegsverbrechen (vgl. das
Video «Collateral Murder»). Zur Wahrheit, die Jesus als freimachend beschwört,
gehören grundlegende Menschenrechte. Ich will nicht in einer Welt leben, in der
die Wahrheit nur in der inneren Beziehung zu Jesu Wahrheit zu finden ist. Ich
will in einer Welt leben, in der Verbrechen auch Verbrechen genannt und
aufgedeckt werden. In einer Welt, in der Rechtsbruch nicht zum Heldentum
verklärt wird und Politiker für ihr Handeln haftbar sind.
Marietjie Odendaal ist Mitglied im Ausschuss Kirche und Gesellschaft der EMK Schweiz-Frankreich-Nordafrika
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