Irgendwo zwischen Kain und Lamech stehen wir heute, im 21. Jahrhundert, angesichts der Opferzahlen von Kriegen.
Im Irakkrieg starben (konservativ gezählt) auf der einen Seite 110'000 Zivilisten und 10'000 irakische Soldaten, auf der Seite der USA und ihren Verbündeten ungefähr 5000 Soldaten. Das Opferverhältnis zugunsten der USA und ihrer Verbündeten beträgt 1:24.
Im aktuellen Nahostkonflikt kommen auf einen toten Israeli 23 tote Palästinenser (Stand am 29.07.2014).
Die Tragik an dieser Situation ist, dass bereits vor 4200 Jahren eine Regel bekannt war, welche die Eskalation von Rache und Gewalt hätten eindämmen können. Ich spreche vom "ius talionis". Im Codex "Ur-Nammu" heisst es: „Wenn ein Mann einen Mord begangen hat, soll besagter Mann getötet werden.“ Gleiches wird mit Gleichem vergolten. Die Bibel greift dieses Prinzip mit den Worten auf: "Entsteht aber weiterer Schaden, sollst du Leben für Leben geben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuss für Fuss, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme." (Exodus 21,23-25).
Zwischen Tätern und Opfern wird ein Ausgleich geschaffen, bei dem das Opfer in gleichem Mass Täter wird wie der Täter. Im Idealfall wird damit ein Gleichgewicht geschaffen, das zu keiner weiteren Gewalt führt.
Die oben erwähnten einseitigen Kriege hinterlassen nach ihrem Ende aber nicht ein Gefühl von Gerechtigkeit, sondern viele offenen Wunden, viel Hass und Wut, und unglaubliche Energien auf der Basis erfahrener Demütigungen und Unrechtserfahrungen bei einzelnen Menschen Familien und Völkern.
Wahrscheinlich wäre die Welt besser, würden die Kriege anders, eben im Sinne des ius talionis geführt. Doch so ist die Welt nicht.
Das wusste auch Jesus, als er das Talionsgebot aufnahm und diesem eine Deeskalations-Anweisung gegenüber stellte: "Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der Böses tut, keinen Widerstand! Nein! Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin." (Matthäus 5,38+39).
Den Rachegedanken bei Kain und Lamech nahm Jesus im Zusammenhang mit der Frage des Petrus auf: "Herr, wie oft kann mein Bruder an mir schuldig werden, und ich muss ihm vergeben? Bis zu siebenmal? Jesus sagt zu ihm: Ich sage dir, nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebenundsiebzigmal." (Matthäus 18,21+22).
Es geht um die Eindämmung von Gewalt und Unrecht. Und das ist nur möglich dadurch, dass Gewalt und Unrecht ertragen wird. Starke Persönlichkeiten und starke Nationen können das. Sie können in ausufernder Weise nicht vergelten und mit Nachdruck immer wieder vergeben.
Schwache Persönlichkeiten und schwache Nationen werden sich weiterhin rächen. Es wäre geradezu fortschrittlich, wenn sie es lediglich im Sinne des Talionsgebots tun.
Jörg Niederer ist Mitglied im Ausschuss Kirche und Gesellschaft der EMK Schweiz-Frankreich-Nordafrika
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