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Mittwoch, 30. Januar 2013

Bischof Heinrich Bolleter - Von politischer Bildung und Respekt für die „Anderen“

Gerne begrüssen wir Heinrich Bolleter, Bischof im Ruhestand der Evangelisch-methodistischen Kirche als Gastautor in unserem Blog. Er unterhält selbst einen Blog unter http://www.heinrich-bolleter.net. In diesem ersten Beitrag geht es um den Holocaust-Gedenktag und im Konkreten um den Antiziganismus.


Bischof Heinrich Bolleter schreibt:

Mit unserem Hang zur Aktualität und unserem Kurzzeitgedächtnis untergraben wir die politische Bildung.
Ich wollte schon lange einen Beitrag über die Dimension des Antiziganismus in Europa und in der Schweiz schreiben. Typischerweise ist jedoch dieses Projekt stets wieder von anderen aktuellen Beiträgen in den Hintergrund gedrängt worden. Nun notiere ich anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 26. Januar 2013 doch einige Gedanken zum Thema. Das Ziel solcher Notizen ist mit den Worten von Bischöfin Rosemarie Wenner treffend umschrieben. Sie hielt im Zusammenhang mit dem Holocaust Gedenktag fest: „Wir wirken daran mit, dass Menschen einander respektvoll begegnen und wehren so Vorurteilen und Verallgemeinerungen gegenüber »den Juden«, »den Roma« oder auch »den Fremden«. So wird die Welt menschlicher, Gott, dem Freund des Lebens zur Ehre.“

Es gibt gegenwärtig in Europa und auch in der Schweiz einen Antiziganismus, nicht nur in Denkmustern, sondern auch in ganz konkreten Diskriminierungen und Handlungen. Sinti und Roma werden noch immer mit Diebstahl und Faulheit in Zusammenhang gebracht und die Ausgrenzung als Mittel eingesetzt, um sie loszuwerden. Kriminalität wird erklärt durch Zugehörigkeit zu einer Minderheit, seien es nun Migranten oder „Zigeuner“ .
Sinti und Roma werden bei uns durch Behörden und Lokalpolitiker diskriminiert. Zwar reden wir nicht darüber und zeigen lieber mit Fingern auf die ost- und südosteuropäischen Länder, wo durch die Emanzipation von der kommunistischen Vergangenheit ein neuer emanzipatorischer Nationalismus erwachte und damit den Antiziganismus seit den 90er Jahren neu förderte.
Antiziganismus ist, wie der Antisemitismus, nicht nur ein Problem des rechten Randes. Er ist virulent auch in der gesellschaftlichen Mitte. Weil wir die Verbrechen an den Sinti und Roma in der Geschichte und der Gegenwart Europas weder wahrnehmen noch historisch aufarbeiten, breitet sich der Antiziganismus ungehindert aus.

In Europa soll es 12 Millionen „Zigeuner“ geben. Die wirklich fahrenden Familien sind aber nur eine kleine Minderheit davon. Die Mehrheit hat sich fest niedergelassen oder wurde auch dazu gezwungen. Sie lebt in den ost- und südosteuropäischen Ländern. Wir können nicht Lösungen finden, wenn wir nur versuchen die Romas von unserem Land fern zu halten.
Der Korrespondent der NZZ in Belgrad hat unlängst in einem Artikel festgehalten: „Für die Schweiz ist das Asylproblem mit serbischen Roma gelöst. Doch gegen die eigentliche Ursache der Misere ist damit nichts getan.“
„Der serbische Innenminister Ivica Dacic und der Direktor des Schweizer Bundesamtes für Migration Mario Gattiker wirkten entspannt, als sie in Belgrad Mitte Januar vor die Presse traten: Problem gelöst. Die Zahl der Antragsteller ohne eigentlichen Asylgrund aus Serbien, die in der Schweiz Aufnahme suchen, ist in kurzer Zeit auf fast einen Zehntel zurückgegangen. Dacic sagte klar, wem dies zu verdanken sei: den Schweizer Behörden. Sie hatten das Prüfungsverfahren beschleunigt und die so genannten Rückkehrhilfen abgeschafft.“ Über 80 Prozent der Asylsuchenden aus Serbien und Mazedonien seien Roma. Viele würden aus dem serbischen Presevo Tal nahe der mazedonischen Grenze kommen.
Wer beginnt über die Situation der Roma nachzudenken, entdeckt sehr bald, dass wir nur Lösungen finden in der Schweiz und in Europa, wenn wir miteinander kommunizieren. und helfen die Lebensbedingungen und die Ausbildung der Romas an Ort und Stelle zu verbessern. Wenn man nicht kommuniziert, entstehen Vorurteile und Misstrauen. Die Ausgrenzung der Sinti und Roma ist nicht nur in den osteuropäischen Staaten vorhanden, sondern auch bei uns.
Diskriminierung ist stets auch eine Folge von Verdrängung und Schuldabwehr. Nur vom sozialen Problem zu reden, greift zu kurz. Wir müssen auch die Diskriminierungen und die Verfolgung über Generationen in unserer Geschichte im Blick haben. Antiziganismus ist stets auch eine Folge von Verdrängung und Schuldverweigerung. Wer hält das Bewusstsein wach, dass es auch ein Holocaust für die Romas gab? Wer in der Schweiz hält die Erinnerung an das Unrecht wach, welches man an den „Kindern der Landstrasse“ verübt hatte (ein halbstaatliches Projekt, durch welches man die Fahrenden ausrotten wollte, indem man die Familien auseinander riss und die Kinder den Familien entzog. 1926 bis 1972). Wer weiß, dass im Kosovokrieg die Sinti und Roma vertrieben wurden? Und Europa kaum einen Finger gerührt hatte, um sie neu anzusiedeln?
Politische Bildung hat sehr viel mit der Befähigung die Vergangenheit zu verstehen und auch die Schuld zu bewältigen zu tun. Dazu leistet der Holocaust Gedenktag einen kleinen Beitrag.

PS: Eine Dokumentation zum Antiziganismus in Europa wurde nach einem Symposium im Mai 2012 in Mannheim zusammengestellt:
http://www.roma-service.at/dromablog/?p=21473

Heinrich Bolleter, Bischof im Ruhestand


Donnerstag, 10. Januar 2013

Nein zur 24 Stunden- und 7-Tage-Arbeitszeit


Am 8. Januar 2013 haben Organisationen der Sonntagsallianz, darunter auch die Evangelisch-methodistische Kirche, das Referendum gegen die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten und damit gegen die Verschlechterung des Arbeitsgesetzes lanciert. Das Parlament will bei Tankstellenshops den 24-Stunden-Betrieb einführen. Damit droht ein Dammbruch für den ganzen Detailhandel. Mit seinem Entscheid höhlt das Parlament zudem das Arbeitsgesetz aus. Das hat Folgen für alle Branchen und untergräbt wichtige gesellschaftliche Freiräume. Dagegen setzen sich Organisationen der Sonntagsallianz vehement zur Wehr.

Als Kirche wehren wir uns in erster Linie dagegen, dass der Sonntag als christlicher Ruhetag Schritt für Schritt zum Arbeitstag umgebaut wird. Dieser für den Menschen so wichtige Wert der heutigen Sonntagsruhe (vgl. 2. Mose 20,8-11) wurde erkämpft und soll nicht einer Ausweitung des Konsums geopfert werden.

Helfen Sie mit bei der Sammlung von Unterschriften und unterzeichnen Sie selbst dieses Referendum. Alle dazu nötigen Informationen und Unterlagen erhalten Sie auf der Webseite http://emk-kircheundgesellschaft.ch oder http://www.sonntagsallianz.ch

Jörg Niederer

Dienstag, 8. Januar 2013

Ein-Wurf von Markus Da Rugna


"Wir haben hier keine bleibende Stadt..." Na ja, ich lebe sowieso lieber auf dem Land. "... die zukünftige suchen wir." Muss das sein? Ja, die Spannung Stadt-Land ist in der Schweiz sehr ausgeprägt und identitätsstiftend. Peter von Matt, Schweizer Buchpreisträger, beschreibt dies so:
"Noch immer kommen sich Leute, die stadtnah und an bevorzugter Lage in angenehmen Villen leben, als geborene Bergler vor, spielen im Nadelstreifenanzug den politischen Wurzelsepp und werden dafür von anderen synthetischen Berglern begeistert beklatscht."
Ja, wir pflegen als Schweizer das Bild des Berglers, auch wenn wir Städter sind. Das Berglerisch-Ländliche steht eher für das Bestehende und die Stadt für Fortschritt und Erneuerung.
In dieser unauflöslichen Spannung bewegt sich auch der Vers aus dem Hebräerbrief: Noch sind wir hier, doch unsere Sehnsucht sieht und sucht weiter. Diese Spannung dürfen wir nicht auflösen. Sie ist produktiv und kreativ. Das Bestehende darf auch hinterfragt werden, ohne grad alles auf den Kopf zu stellen. Was ist bei Ihnen im neuen Jahr dran? Aufbrechen oder das Bestehende ausbauen?

Erschienen in "Kirche und Welt", 1/2013 - Markus Da Rugna ist Mitglied im Ausschuss Kirche und Gesellschaft der EMK Schweiz-Frankreich