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Mittwoch, 18. Januar 2023

Sehr geehrte Frau Bundesrätin

Sozialethische Arbeitsgruppe der evangelisch-methodistischen Kirche in Solothurn

Martin Roth, Loretostrasse 25, 4500 Solothurn



Frau

Bundesrätin K. Keller-Sutter

Bundeshaus West 

3003 Bern


Sehr geehrte Frau Bundesrätin

Vielen Dank für Ihren grossen Einsatz rund um die schwierigen Fragen der Flüchtlinge. Ganz besonders freut uns, wie schnell sie den Status ‘S’ für die Flüchtenden aus der Ukraine in Kraft gesetzt haben. So fanden die Frauen und Männer schnell einen Ort, der ihnen Schutz bot. Dass Sie mitverantwortlich waren dafür, dass der Bundesrat diesen Schutzstatus jetzt um ein Jahr verlängert hat, freut bestimmt nicht nur die Geflüchteten, sondern auch uns. Nochmals vielen Dank.

Allerdings sind die Menschen aus der Ukraine nicht die Einzigen, die sich vor Krieg und Verfolgung fürchten und deshalb flüchten. Die Medien berichten fast täglich über Demonstrationen und Repressionen in verschiedenen Ländern der Welt. Und viele Menschen, gerade auch Frauen, flüchten, weil sie befürchten müssen, verfolgt, verhaftet oder gar getötet zu werden. Wäre die sichere Schweiz für solche Menschen nicht ein Ort, der ihnen Schutz bieten könnte?

Dazu schaffte die Schweiz das ’humanitäre Visum’. Nun hat am 17. 11. 2022 die Sendung ‘Rendez-vous am Mittag über das humanitäre Visum berichtet: «Das humanitäre Visum soll Verfolgten den Zugang zur sicheren Schweiz ermöglichen. Jetzt zeigen aktuelle Zahlen: Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und den Protesten in Iran ist es fast bedeutungslos». Die Hürden, ein solches Visum zu erhalten sind laut diesem Bericht viel zu hoch. Es scheint, dass viele Betroffene es aus Angst vor Ablehnung gar nicht erst versuchen, ein solches Visum zu beantragen. 

Uns scheint diese abwehrende, ängstliche Haltung der humanitären Tradition der Schweiz unwürdig. Zudem ist diese Haltung der Schweiz sehr diskriminierend und ungerecht. Was unterscheidet denn die Schutzsuchenden aus der Ukraine von jenen aus dem Iran, Afghanistan oder anderen Ländern? Wir bitten Sie daher sehr, allen gefährdeten Menschen den Zugang zum Schutz in der Schweiz zu ermöglichen. Bitte zeigen Sie gegenüber den Flüchtenden aus dem Iran, Afghanistan oder Eritrea die gleiche Offenheit und den gleichen Mut, ihnen Schutz zu bieten, wie jenen aus der Ukraine.

Freundlich grüssen Sie


Kirche in einem dynamischen Umfeld

In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird gesamtschweizerisch von einem Bedeutungsrückgang von Religion ausgegangen. Neuste Studien erklären dies insbesondere mit einer Säkularisierung via Kohorten. Religiosität wird demnach in der Schweiz immer weniger von einer Generation zur nächsten weitergegeben (Religionstrends in der Schweiz, 2022). Dieser Trend zeigt sich vor allem bei den beiden Landeskirchen in der Schweiz, wo die katholische Kirche ihren Mitgliederrückgang (aktuell noch) durch Personen mit Migrationshintergrund (hauptsächlich Italien, Portugal, Spanien und Kroatien) etwas ausgleichen kann (Rückgang von 46.7% 1970 auf 33.8% in 2020), wohingegen er bei der evangelisch-reformierten Kirche deutlicher ausfällt (Rückgang von 48.8% 1970 auf 21.8% in 2020). Abgesondert davon hat sich in der Schweiz ein freikirchliches Milieu (ca. 1.5-2.5% der Schweizer Bevölkerung) etabliert, wo die Säkularisierung weniger stark zu wirken scheint. In diesem Sozialmilieu ist jedoch ein gewisser interner Wettbewerb erkennbar.

Für die EMK sind diese gesellschaftlichen Gegebenheiten auch hinsichtlich einer generellen Identitätsfrage von zentraler Bedeutung. Es muss vermutlich entlang der Frage einer gewissen Anpassung (zugunsten der sozialen Identität Religion) oder einer stärkeren Abgrenzung nach Aussen (zugunsten einer Stützung der eigenen religiösen Identität) verhandelt werden. Diese Unterscheidung ist auch für einen Strategieprozesses zur Mitgliedergewinnung dahingehend relevant, wenn man sich überlegt, welche Personen dieser beiden gesellschaftlichen Gruppen man wie am besten erreichen kann oder möchte. Einerseits bietet ein Fokus auf das freikirchliche Milieu den Vorteil, dass dort bereits eine konsistente Nachfrage für Religiosität existiert, da dort die Säkularisierung gemäss aktueller Forschung weniger stark wirkt. So könnte man von dort Mitglieder*innen gewinnen, falls man in Konkurrenz mit anderen Freikirchen tritt. Dies schafft man vor allem, indem man auf lokaler Ebene durch individuelle religiöse Angebote überzeugt und damit besser als andere Institutionen die religiösen Bedürfnisse dieser Anspruchsgruppe befriedigt und diese dabei auch gezielt anspricht und einlädt. Dies könnte jedoch als Nullsummenspiel aufgefasst werden, da gesamtschweizerisch dadurch die Anzahl an Christen nicht vergrössert, sondern nur einige «Player im religiösen freikirchlichen Markt» erfolgreicher oder weniger erfolgreicher agieren. Möchte man Personen aus der säkularen Welt (Anspruchsgruppe: ehemalige Reformiert, junge Menschen ohne Religionszugehörigkeit, etc.) erreichen, geht es vor allem darum, dass die Einstiegshürden in den Gemeinden bei diesen Personen nicht zu hoch gesetzt werden, indem beispielsweise bereits erwartet wird, dass man in seinem Glauben gefestigt sein muss oder regelmässige religiöse Praxis betreibt. Es müsste sich eher um einen Schritt für Schritt Prozess (Nudging) handeln. Insgesamt bietet die Unterscheidung zwischen diesen beiden Anspruchsgruppen den Vorteil, dass man die Bedürfnisse der jeweiligen potenziellen Mitglieder gezielter erreichen kann. Eine fehlende Differenzierung birgt zudem die Gefahr einer möglichen Irritation, da unterschiedliche Erwartungen innerhalb der Kirche aufeinandertreffen und keine klare Position besteht (Stuck in the Middle Problematik). 

Konkret stellt sich also die Frage, ob die EMK den Fokus daraufsetzen möchte, brückenbauend in die säkulare Welt hinein zu agieren, oder eher versuchen möchte, im religiösen freikirchlichen Markt mit anderen freikirchlichen Akteure zu konkurrieren und dort durch individuelle religiöse Angebote zu überzeugen. Eine bewusste Differenzierung dieser Anspruchsgruppen ist zentral und wirft wichtige weiterführende Fragen auf, die wir in unserer Kirche bearbeiten sollten.

Milan Weller